24.01.2017 - Die BISS–WG

Der Immobilien- und Wohnungsmarkt in München ist eine prekäre Angelegenheit. Zu wenig bezahlbarer Wohnraum macht es vor allem Bürgern in sozialen Schwierigkeiten sehr schwer, eine Wohnung zu bekommen. Mit einer Wohngemeinschaft will der Verein BISS, unterstützt von der Stiftung BISS, obdachlose BISS-Verkäufer von der Straße holen, mittelfristig wieder in den Wohnungsmarkt und langfristig in die Gesellschaft eingliedern. Die WG ist ein Pilotprojekt und eine Herzensangelegenheit aller verantwortlichen Akteure

Die BISS-WG

 

Text Barbara Off

Ende Oktober 2016. Ein prachtvoller, sonniger Herbsttag mit leuchtenden gelben Blättern inder Gartenstadt Solln. Auf dem Klingelschild stehe „BISS“, heißt es in der Wegbeschreibung. Also nicht zu verfehlen. Zwei rumänische BISS-Verkäufer, Vertreter von BISS e. V. und der Stiftung BISS, ein Übersetzer, ein Fotograf und eine Journalistin treffen sich in einer 3-Zimmer-Wohnung in einem der Wohnblocks. Heute ist offzielle Schlüsselübergabe. Die BISS-Verkäufer Ion Plesa und Cuza Dragomir ziehen in die neu gegründete BISS-WG ein – das jüngste Projekt der Stiftung BISS in Zusammenarbeit mit dem BISS e. V.

RÜCKBLICK: HOTEL BISS

Der eine oder andere wird sich an den traurigen Ausgang des ambitionierten Vorhabens Hotel BISS im Jahr 2011 erinnern. Die Stiftung wollte dem Freistaat Bayern das verlassene Frauen- und Jugendgefängnis Am Neudeck abkaufen, um darin ein 4-Sterne-Hotel zu errichten, das benachteiligten Jugendlichen Ausbildungsplätze im Hotelfach bieten sollte. Dafür waren im Zeitraum von 2007 bis 2011 insgesamt etwa 1,5 Millionen Euro an BISS gespendet worden. Doch der Freistaat machte nicht von seinem Recht Gebrauch, einem dem Gemeinwohl dienenden Bieter wie BISS den Vorzug zu geben, sondern verkaufte die Immobilie an einen anonymen, kommerziellen Investor. Seitdem steht das Gebäude leer. „Wir mussten lernen, dass für die Bayerische Staatsregierung der gesellschaftliche Zusammenhalt, Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit nicht zählen. Sonst hätte sie sich für das BISS-Angebot entschieden, das der gesamten Gesellschaft am meisten gebracht hätte“, resümiert Hildegard Denninger, ehemals Geschäftsführerin des BISS e. V. und heute Vorstandsvorsitzende der Stiftung BISS: „Hotel BISS und der GBW-Skandal, wo vom Freistaat Bayern 30.000 Wohnungen in öffentlichem Besitz an einen kommerziellen Investor verkauft wurden, zeigen, was Politik zerstören kann. Was mit Unterstützung der Politik bewirkt werden kann, zeigt die Straßenzeitschrift BISS, die sich von Anfang an auf die Unterstützung der Landeshauptstadt München verlassen konnte.“ Da die BISSler ihr Jahrhundertprojekt nicht verwirklichen konnten, wurden mit dem damals gespendeten Geld für Hotel BISS bis Ende 2016 zahlreiche Projekte, die sozial benachteiligte junge Menschen qualifizieren und ausbilden, mit insgesamt über 800.000 Euro gefördert (detaillierte Aufstellung veröffentlicht in BISS 7-8/2015). Mit einem Teil der verbliebenen Mittel konnten 2015 ein 1-Zimmer-Appartement und 2016 eine 3-Zimmer-Wohnung günstig erworben werden.

WOHNEN IN MÜNCHEN

Der Erwerb von geeigneten Immobilien zur Versorgung und Betreuung armer, ausgegrenzter Menschen ist ein weiterer Schwerpunkt der Stiftungsarbeit. Denn „eine der größten Schwierigkeiten, mit denen Obdachlose und Arme, aber auch Menschen mit kleinem Einkommen in München zu kämpfen haben, ist der Mangel an bezahlbarem Wohnraum“, konstatiert Johannes Denninger, seit 20 Jahren Sozialarbeiter bei BISS. Erschwinglicher Wohnraum in der bayerischen Landeshauptstadt ist für den Großteil der Münchner ein Thema. Wer kennt sie nicht, die Bewerberschlangen für eine 2- bis 3-Zimmer-Wohnung auf dem freien Mietmarkt und das ernüchternde Gefühl nach einer Absage, weil man wahrscheinlich nicht in das perfekte Muster gepasst hat. Trotz verstärkten Engagements der Stadt München ist der Wohnungsmarkt immer noch sehr angespannt. Momentan warten 16.000 Menschen auf eine Sozialwohnung. In dieser Lücke zwischen Mangel und Bedarf wird die Stiftung nun aktiv. Herr Dragomir, einer der beiden Bewohner, kam 2015 aus Rumänien nach Deutschland. Er suchte in halb Europa nach Arbeit, fand aber keine und konnte sich deshalb keine Wohnung leisten. Als BISS-Verkäufer ist er in Teilzeit angestellt. Er verkauft 400 BISS und verdient 800 Euro brutto bzw. 630 Euro netto. Seine Familie lebt in Spanien und Rumänien. Dorthin fährt er auch regelmäßig für längere Perioden. Er verdient nicht genug, um die durchschnittliche Münchner Miete bezahlen zu können. Gerade wenn auch noch Geld nach Hause geschickt werden soll.

VERMEHRT ARBEITSMIGRANTEN AUS RUMÄNIEN

2007 wurde Rumänien als o zielles Mitglied in die EU aufgenommen. Seitdem hat sich nach Aussage der beiden WG-Bewohner und auch des rumänischen Übersetzers die Lage in Rumänien eher verschlechtert als verbessert. „Was hätte ich mit 200 Euro im Monat anfangen sollen? Das ist einfach zu wenig“, klagt der gelernte Kfz-Mechaniker Herr Dragomir. Und so führt der Weg vieler Rumänen nach Deutschland, um zu arbeiten und Geld zu verdienen. Doch so leicht ist es für die Arbeitsmigranten aus den osteuropäischen Ländern nicht, hier Fuß zu fassen. Auf Sozialleistungen hat man als Arbeitsmigrant aus Rumänien keinen Anspruch. Für die Menschen, die wie die beiden BISS-Verkäufer sehr wenig Deutsch sprechen und keine am Hochleistungsstandort München entsprechend verwertbaren Qualifikationen haben, gibt es keine Jobs. Selbst für einfache Hilfstätigkeiten findet man deutsch sprechende Bewerber. Für schwere körperliche Arbeit fehlen beiden Bewohnern der BISS-WG die Kraft und die Berufserfahrung. Herr Dragomir wollte auch in München gern wieder als Kfz-Mechaniker arbeiten. „Doch wenn die Arbeitgeber meine Dokumente und mein Geburtsdatum sehen, dann haben sie kein Interesse mehr. Ich werde in zwei Jahren 60. Ich bin zu alt“, zieht der rumänische Kfz-Mechaniker Bilanz. Für ihn ist der Einzug in die BISS-WG eine Chance, etwas Ruhe zu finden und sich zu sammeln. Langfristig will er eine eigene Wohnung haben, um auch seinen Vater und seine Frau, die beide noch in Rumänien leben, nachzuholen.

DIE BEDEUTUNG EINES FESTEN WOHNSITZES

Als Übergang sind die Wohnungen auch vom Vermieter, der Stiftung BISS, gedacht. Die Mietverträge mit den WG-Bewohnern sind auf ein Jahr befristet. 390 Euro inklusive aller Nebenkosten müssen für ein komplett möbliertes Zimmer in der BISS-WG gezahlt werden. Die Wohnung soll eine Brücke schlagen von Obdachlosigkeit oder prekären Wohnverhältnissen hin zur eigenen Mietwohnung. „Denn wenn man erst einmal eine Wohnung hat, dann kann sich innerhalb eines Jahres ziemlich viel verändern“, ist die Überzeugung von Johannes Denninger. Man macht sich nicht wirklich eine Vorstellung, was alles an einem festen Wohnsitz hängt! Spielen wir das Szenario doch einmal kurz durch: Wenn man keinen festen Wohnsitz hat, kann man sich beim Kreisverwaltungsreferat melden und „ofW“ (ohne festen Wohnsitz) im Ausweis eintragen lassen. Dann muss man sich bei einer sozialen Einrichtung wie zum Beispiel der Teestube KOMM oder Schiller 25 eine Postadresse besorgen. Bei vielen Banken kann man kein Konto eröffnen, auch wenn es nach einer europäischen Richtlinie erlaubt ist. Man kann ohne festen Wohnsitz zwar überleben, doch alles ist schwieriger, umständlicher und teurer. So kostet eine Überweisung ohne Konto zwischen fünf und zehn Euro. BISS unterstützt obdachlose Verkäufer, indem sie die Büroadresse in der Metzstraße angeben dürfen. Aber einen eigenen Wohnsitz zu haben, ist dann doch noch mal etwas anderes. Herrn Plesa ist die Erleichterung an diesem Einzugstag regelrecht anzusehen. Er ist vor allem froh, dass er jetzt einen sicheren Ort hat, an dem er seine Sachen au ewahren kann. Vorher hat er auf der Straße gelebt. Da musste er immer Angst haben, dass in den Sachen herumgewühlt wird oder gar etwas wegkommt. „Am meisten freue ich mich, dass es jetzt nicht mehr so stressig ist, dass meine Dokumente in Sicherheit sind, und ich ein Dach über dem Kopf habe“, meint er. Im Oktober 2015 kam er aus ähnlichen Gründen wie Herr Dragomir nach Deutschland. In Rumänien war er bei der Marine. Hier in Deutschland wollte er zunächst bei der Bundeswehr anheuern. Doch das war nicht möglich. Und so ist er über Bekannte Ende 2015 bei BISS gelandet, obdachlos und ohne Deutschkenntnisse. Er verkaufte die Zeitschrift, nahm teil am wöchentlichen Sprachkurs, wurde im September 2016 angestellt, und schließlich kam das Angebot von BISS, mit in die WG einzuziehen. Auch wenn er sich in der neuen Wohnung fast schon wie zu Hause fühlt, ist und bleibt Rumänien seine Heimat. Herr Plesa schickt seiner in Rumänien lebenden Mutter regelmäßig Geld. Und sein Herz hängt auch sehr an seinem Haus, das er in Rumänien auf dem Land besitzt. Was er in Deutschland verdient, will er größenteils in die Renovierung des Hauses stecken, denn im nächsten Sommer muss unbedingt das Dach gemacht werden. Das Haus will er einmal seinem Neffen vermachen. Wenn Herr Plesa davon erzählt, gerät er ins Schwärmen und hat glänzende Augen. Vor allem die Ruhe und die schöne Natur rund um sein Haus scheint er sehr zu vermissen. Da liegt es nahe, dass Herr Plesa sich für das zwar kleinere Zimmer, dafür aber mit Blick auf Wiese und Bäume entschieden hat. Gern hat Herr Dragomir dafür das größere Zimmer bezogen. Ein harmonischer Start für die Wohngemeinschaft, die den einen oder anderen Konflikt bestimmt noch bereithalten wird.

WOHNTRAINING MIT DEM H­-TEAM

Doch auch hier ist schon vorgesorgt. Nach Aussage von Herrn Denninger soll die BISS-WG vom H-Team betreut werden. Seit mehr als 25 Jahren hilft der gemeinnützige Verein in München Menschen beim Wohnen. Denn nicht jeder hat automatisch gelernt, wie Wohnen funktioniert, und mancher ist aufgrund von schwierigen Lebensumständen damit überfordert. So hilft das H-Team Bürgern in sozialen Nöten dabei, ein würdiges Leben im vertrauten Zuhause mit einem größtmöglichen Maß an Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu führen. Beim Modellprojekt BISS-WG soll das H-Team die Bewohner mit Wohntraining begleiten: Wie gehe ich mit dem Kühlschrank um, wie mit der Waschmaschine, wie oft soll man putzen, wie oft wäscht man die Vorhänge, wie schaut die Vorratshaltung aus, wie wird die Mietzahlung abgewickelt, wo muss man melden, dass man einen Wohnsitz hat. „Wir wollen die Leute nicht hospitalisieren, sondern zur Selbsthilfe befähigen. Wir hoffen, dass wenn man jemand erst einmal auf die Schienen gesetzt hat, er dann von allein weiterfahren kann“, so Karin Lohr, Geschäftsführerin des BISS e. V. Ein Mitarbeiter hat die Waschmaschine schon mal auf rumänisch programmiert, so dass man nicht versehentlich für die Wolljacke den Kochwaschgang einschaltet.

EINFACH MAL MACHEN!

Unterm Strich ist es das Hauptziel dieses Modellprojekts, die Leute von der Straße zu bekommen. Ob das alles so funktionieren wird, wie es sich die Verantwortlichen von BISS e. V. und der Stiftung BISS vorstellen, wird sich zeigen. Erst einmal machen, lautet die Devise, dann wird man sehen, ob es läuft oder ob man etwas anders machen muss: „Der Ansatz von BISS, mit dem Handeln die Initiative zu ergreifen, schon bevor alles bis ins kleinste Detail ausdiskutiert ist, bringt einen erfahrungsgemäß weiter“, beschreibt Herr Denninger treffend das BISS-Engagement. Ob und inwieweit das H-Team also wirklich gebraucht werden wird, wird sich herausstellen. Klar ist auf jeden Fall, dass mit der Wohnung die bestmöglichen Voraussetzungen für die beiden BISS-Verkäufer geschaffen wurden. Hierbei war es Hildegard Denninger vor allem auch wichtig, dass die Wohnung eine schöne und hochwertige Ausstattung und keine Provisorien haben sollte: „Die Bewohner sollen sich wohl und geschätzt fühlen. In den Verhältnissen, aus denen sie kommen, haben sie schon genug mit Provisorien zu tun gehabt.“ Ein Wolfratshauser Möbelbauer spendete neue, hochwertige Holzmöbel, ein bekanntes Münchner Traditionsunternehmen die schöne Bettwäsche, Plumeaus sowie Hand- und Badetücher. Die Kosten für die restliche Innenausstattung der Wohnung übernahm die Stiftung BISS. Mit Unterstützung des Übersetzers übergibt Karin Lohr die Wohnung erfolgreich an die beiden zukünftigen WG-Bewohner. Die Eckdaten sind besprochen und die Schlüssel ausgehändigt. Einer für das Zimmer, einer für die Wohnung, einer für das Haus. Und nicht zu vergessen, ganz wichtig, der Briefkastenschlüssel. Zum Abschluss überreicht Frau Lohr jedem der beiden BISS-WG-Bewohner ein Handtuch, auf dem sein Vorname eingestickt ist. „Auf ein gutes Miteinander“, verabschieden sich alle Beteiligten voneinander. Dann löst sich die kleine Gemeinschaft ganz schnell auf. Von wegen Einzug, einrichten und ankommen. Vor allem Herr Plesa will sich jetzt nicht weiter in der Wohnung aufhalten. Keine Zeit. Er muss ins Stadtzentrum, um noch ein paar BISS-Hefte zu verkaufen. Sonst stimmt die Bilanz nicht. Dann wird das nichts mit Miete zahlen und Geld sparen für sein Haus in Rumänien.